Budenzauber

Das Ruhrgebiet hat viele Vorteile: Es gibt hier keinen FC Bayern, auf je hundert Einwohner kommen mindestens zwanzig Frittenschmieden, und auch wenn der Schrebergarten und die Currywurst in Berlin erfunden wurden, ist die Benutzung des einen und der Verzehr der zweiten in dieser Gegend zum selbstverständlichen Bestandteil der Hochkultur geworden.

Das größte Plus für die Lebensqualität zwischen Recklinghausen und Hattingen, Duisburg und Unna ist jedoch die »Trinkhalle« oder »Selterbude«, kurz: die Bude, ein nicht wegzudenkender Versorgungsstützpunkt, der elementare Grundnahrungsmittel wie Flaschenbier, Kartoffelchips und Klümpchen auch jenseits der üblichen Ladenöffnungszeiten bereithält. Beim Wohnungswechsel innerhalb des Ruhrgebietes achten echte Kenner weniger auf die Anbindung an den öffentlichen Personennahverkehr als vielmehr auf die Entfernung zur nächsten Bude. Ich selbst kann mein gesamtes bewusstes Leben und meine Wohnbewegungen in meiner Heimatstadt (Bochum) allein anhand der Buden und der dazugehörigen Budenmänner und Budenfrauen erzählen.

Ich erinnere mich zum Beispiel an den alten Lemke, der die Bude am Imbuschplatz hatte, ein freistehendes Modell mit Schrägdach und öffentlicher Toilette an der Rückseite - ein perfektes Bild für einen funktionierenden Wirtschaftskreislauf: Vorne wurde der Flachmann Weizenjunge erworben, im Schatten gleich neben der Bude mit dem nötigen Ernst verarbeitet und im hinteren Teil gleich ortsnah entsorgt.

Der alte Lemke selbst hatte nur ein Bein, bewegte sich aber recht behände auf zwei schwarzen Krücken über die vier Quadratmeter seines Unternehmens. Sein bester Freund war eine schwarzfellige Töle namens, und das kann man nicht erfinden, Adolf.

Kunden waren für Herrn Lemke keine Könige, sondern das lästige Pack, mit dem man sich abgeben musste, wenn man was verkaufen wollte. Vor allem aber waren Kunden keine Leute, die ein Recht auf Hygiene hatten. Die fleischige Pranke, die eben noch tief in Adolfs Nackenfell Parasiten gesucht und gefunden hatte, senkte sich im nächsten Moment in eines der durchsichtigen Bonbon-Schubfächer und kramte Salmiakpastillen, Brausebonbons oder Weingummis hervor, um sie auf die abgewetzte Wechselgeldablage im offenen Budenfenster zu knallen.

Nach Herrn Lemkes Tod wurde die Bude auf Weisung des Gesundheitsamtes abgerissen, worauf noch drei Meter Mutterboden ausgetauscht werden mussten, da man eine Kontaminierung des Grundwassers fürchtete.

Als ich mit zwanzig von zu Hause auszog, fand ich eine Wohnung mit Bude gleich im Nebenhaus. Diese war eine von den Luxusmodellen, in die man sogar hineingehen konnte. Das Zeitschriftenangebot lag nur knapp unter dem, was an internationalen Flughäfen üblich ist, die Liste der angebotenen Biersorten ging über zwei handgeschriebene Din-A4-Seiten und neben dem üblichen Kram wurde ein Haufen sogenannter »Vergess-Artikel« angeboten, also H- und Dosenmilch, in Folie hineingefolterte Wurst, Gewürzgurken im Glas und - gleichsam, um den Geschlechterproporz zu wahren - Tampons und Binden.

Der Budenmann war ein breitschultriger Türke mit einem unterarmdicken Schnauzbart unter der Nase und gleich zwei echten, weit sichtbaren Goldzähnen im Oberkiefer sowie einer grobgliedrigen Goldkette, die jedoch nur undeutlich durch die dicht bis ans Kinn wuchernde Brustbehaarung schimmerte. Als er mich nach zwei Wochen als Stammkunde erkannt und akzeptiert hatte, drückte er mir auch schon mal zur WAZ ein Kondom in die Hand und sagte: »Brauchst du mehr? Kannst du haben! Brauchst du Frau dazu? Kein Problem. Du sagen, ich liefern.«

Auch nach meinem nächsten Umzug hatte ich es nicht weit. Diesmal wurde mir richtig was geboten. Drei Häuser weiter erwarteten mich täglich von morgens sieben bis abends um 22 Uhr etwa zwanzig nackte Frauen, um mir Bier, Chips oder Zeitungen zu verkaufen. Na gut, wirklich verkauft hat nur eine, und die war auch nicht nackt, aber in den Budenfenstern um sie herum hingen allerlei gynäkologische Fachmagazine, bei denen die neuralgischen Bereiche mit schlecht sitzenden weißen Zetteln verdeckt waren. Ich gebe zu, einmal habe ich so ein Druckwerk erstanden. Natürlich nur um zu sehen, wie tief andere, die sich so was regelmäßig kaufen, schon gesunken sind. Eine leicht aufgedunsene, von vierzig Brüsten umgebene Blondine schob mir das Magazin, mit dem Titelbild nach unten, über den Tresen und sagte voller Verständnis: »Kommen auch wieder bessere Zeiten!«

Es gibt natürlich auch bedenkliche Entwicklungen auf dem Budensektor. Der Hang, den Namen des Besitzers oder der Besitzerin in der Außenwerbung zu verwenden (»Biggis Büdchen«, »Kalles Kiosk« oder ähnliche Albernheiten), ist ebenso abzulehnen wie die Bezeichnung »Verkaufsshop« oder, noch schlimmer: »Happy Shop«.

Die gute Bude erkennt man an einer sachlichen Werbung für eine lokale Biersorte, einem Langnese-Fähnchen und einem mit Edding geschriebenen Schild »Bitte hier klingeln«, gerne auch mit einem Pfeil, der ins Nichts statt auf eine Klingel weist.

Wir fassen zusammen: Hamburg hat den rauen Charme der Alster, durch Berlin weht dann und wann der Mantel der Geschichte und München hat große Biergärten und schicke Klamotten. Das Ruhrgebiet jedoch hat etwas, das dich am Leben erhält, wenn der Supermarkt geschlossen ist: den Zauber der Bude.

 

Radio Heimat
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